Liebe Bildermacher
und Bilderseher!

Blicken wir durch das Objektiv des vor uns befindlichen Elektronenmikroskops mit Fernrohrfunktion. Zu sehen ist die Gehirnzelle eines Malers in 2000facher Vergrößerung. Ein verworrener Kosmos. Ein neuronales Flirren. Eine Galaxie aus Bildern.
Kleine Dreiecke leuchten in verschiedenen Farben. Sie befinden sich an den Enden von transparenten Schläuchen. 20-30 Schläuche sind zu so genannten „Derealisationsstellen“ miteinander verknotet.
Die Dreiecke sind die Rauschsynapsen. An den grünlich schimmernden Dreiecken setzen zum Beispiel die Botenstoffe von Rotwein und Terpentin ihre Wirkungskette in Gang.
An einigen Stellen bilden tausende von kleinen, grauen Punkten eine hügelartige Struktur. Dann und wann zucken darüber rubinrote Blitze, dessen Licht die Hügel Strukturen als wohlgeformte Busen erscheinen lassen. Es handelt sich hierbei um die Heimat, die Libidoregion des Malers.
Nachdem die Blitze erloschen sind, werden sternbildartige Figurationen sichtbar, flüchtige Himmelszeichnungen, die an das Frühwerk von Jaques Perlstein erinnern.
Und dann trabt auf einmal sehr langsam und gemächlich ein Cowboy auf seinem scheckigen Pferd durch die Landschaft. Er zieht hohlwangig an seiner Zigarette und schwups, der letzte Zug, schnippt unser Held den Zigarettenstummel in einen am Wegesrand stehenden, bereits brennenden Dornbusch.
Atempause.
Der Cowboy fängt an zu singen. Diese rauhalsige Loreley. Wovon singt er bloß? Das Lied ist ein Klassiker aus dem Underground des Volksliedszene:
Es erzählt von einer Familienfeier. Die vorwiegend männliche Belegschaft eines Kegelclubs sitzt um eine reich gedeckte Kaffeetafel. Das Geschirr ist von feinster Qualität: Echtes Meißner Porzellan mit Zwiebelmusterdekor. Die beredten Köpfe glühen schon über den grauen Anzügen und eine an Ludwig Erhardt erinnernde Person schiebt sich ein Stück phosphoreszierende Torte in den weit geöffneten Mund. Die Kinder müssen Gedichte auswendig aufsagen und die Erwachsenen zuhören und klatschen.
Einer der anwesenden Herren schenkt sich noch einen Kaffee ein und muss beiläufig, bei einem kurzen Blick aus dem Fenster mit ansehen, wie da draußen im Vorgarten Opas treuer Dackel namens Waldi von zwei Wölfen zerfleischt wird.
Dann geht es ganz schnell: Das Zwiebelmustergeschirr des Porzellans verwandelt sich in einen alles mit sich reißenden Schwurbel.
Und das Lied endet mit der Strophe:

Die Idylle trügt
Die Idylle lügt
Es ist gar nicht lustig
Wenn der Schwurbel uns alle um die Ecke bringt.

Die Szenerie verfinstert sich. Schließlich ist es stockdunkel und still. Stunden vergehen so, Tage und Monate im schwarzen Nichts.
Nach genau einem Jahr ertönt ein abwägendes Knarren, ein grüblerisches Knacken, dass schließlich von einem selbstzweiflerischem Pfeifen abgelöst wird; so, als denke ein höheres Wesen über die Bedeutung des soeben Geschehenen nach:
Wie ordne ich das ein? Was mache ich mit diesen, meinen Inneren Bildern? Mit welchen Farben kann ich so etwas malen? Wo gibt es preisgünstige Leinwände? Bei Gerstäcker in Hannover? Reicht mein Semesterticket bis dorthin?
Wir bemerken an dieser Stelle, das es sich bei der uns vorliegenden Maler-Gehirnzelle nicht um irgendeine handelt, sondern um eine sehr spezielle, eine in reflektiven, intuitiven und imaginären Bereichen gleichermaßen stark ausgeprägte.
Langsam lichtet sich das Dunkel. Aus einer undefinierbaren Tiefe steigen gesichtslose Wesen die Treppe zu einem Gebäude hinauf. Es erinnert an eine verkleinerte Realisierung der Schwarzwaldklinik.
Wer befindet sich wohl darin?
Vielleicht der Künstler selbst mit einem Kochlöffel?

Autor: Markus Zimmermann

(aus der Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Diplopie" von Droste/Weißköppel in der Galerie der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, Oktober 2005)

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