Siehe unten. Anmerkungen zu Arbeiten von Andreas Neumann
(Prof. Anna Zika, Rede zur Ausstellungseröffnung am 07.07.2005)
Vor einigen Monaten fand ich in einem Satiremagazin ein Foto, auf dem
man Angela Merkel sah, wie sie halb hinter einem Busch versteckt ein
Handy benutzte. Die Redaktion hatte das Porträt mit einer Sprechblase
versehen: "Hallo Herr Hartz, Merkel hier. Ich würde gerne schon mal
5-9 bestellen."
Mir schien diese Montage sehr geeignet, den Zustand der Nation auf
den Punkt zu bringen. Damals lebte ich noch in Wuppertal, und zwar im
achten Jahr meines Aufenthalts. Innerhalb dieser acht Jahre hatte ich
beobachten können, wie eine westdeutsche Stadt mittlerer Größe nicht
nur zunehmend an Attraktivität und Lebensqualität einbüßte, sondern
regelrecht verkam und - zumindest was die Bahnhofsgegend betrifft -
verelendete.
Gestalten, wie wir sie ähnlich auf diesen Fotos hier sehen, waren nun
nicht mehr fern und ins melodramatische Nachrichtenbild gebannt,
sondern gehörten mit immer größerer Selbstverständlichkeit zum
Alltag. Der Trost für Privilegierte und Wohlhabende - arm, das sind
immer die anderen - schien nicht mehr zu greifen; das schlechte
Gewissen ließ sich auch durch gelegentliche Spenden nicht mehr
beruhigen. Ich habe das seinerzeit nicht mehr ausgehalten und die
Stadt gewechselt.
Eine naive Flucht; denn Obdachlosigkeit ist ein zeitgenössisches
Phänomen der meisten Industriegesellschaften geworden; für die USA
beispielsweise werden die Anfänge der Misere auf die 1960er Jahre
datiert, als Ronald Reagan, damals Gouverneur in Kalifornien, die
staatlichen Psychiatrien schloß, und die Kranken auf der Straße
landeten. (ein Zustand übrigens, den der Soziologe und Philosoph Jean
Baudrillard mit dem Beginn der Apokalypse verglich).
Zu den Schwachen, Hilflosen und Verwirrten gesellten sich bald
diejenigen, die es aus anderen Gründen im gesellschaftlichen
Wettbewerb nicht geschafft hatten und durch das soziale Netz gefallen
waren.
An ihnen, den Obdachlosen, ist nichts zu haben und nichts zu holen:
sie zählen weder als Wähler noch als Konsumenten. Gleichwohl sind sie
eine feste und bestimmende Größe in fast allen Städten der westlichen
Welt geworden. Gerade ihre alltägliche und selbstverständliche
Gegenwart lässt offenbar nicht die Frage aufkommen: wie ist es um ein
Land bestellt, in dem Bürger sich in die Lage versetzt sehen, ihren
Selbstrespekt völlig preis zu geben.
Ich will hier gar nicht von "tief gesunken" sprechen. Andreas Neumann
nennt sie, die auf seinen Bildern zu sehen sind, die "nicht
Anerkannten unserer Gesellschaft". In verschiedenen Städten, darunter
außer Bielefeld etwa Berlin, Hamburg, Bremen und London, spürte er
seine Porträtierten auf, spürte sie auf in ihrem Bedürfnis nach
Aufmerksamkeit und in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit.
Jedes dieser Schicksale ist anders und unverwechselbar, vor jedem
dieser Bilder gilt es zu ergründen, wie es zu diesem Status gekommen
ist. Vor jedem dieser Schicksale gilt es Achtung zu haben; denn diese
Bilder erzeugen nicht (bzw. nicht nur) Empathie im Sinne von Mitleid
oder Mit-Leiden;
Neumann nimmt nicht nur die bedauernswerten Einzelnen ins Bild,
sondern den Widerspruch einer Dritte-Welt-Armut in Ländern der Ersten
Welt; so scheint es hierbei um den Preis zu gehen, den eine
Gesellschaft zu zahlen hat, ein Ungleichgewicht als Garant für einen
akzeptablen Durchschnitt, die Negativbilanz jeden Aufschwungs wie den
Anfang vom Untergang.
Andreas Neumanns Bilder sind nicht eigentlich spektakulär und wollen
es auch nicht sein. Konzipiert als visuelles Reisetagebuch eröffnen
sie ein Panorama der individuellen Möglichkeiten, sehr weit unten zu
sein und auch weit unten noch eine Position zu finden. Die
Fotografien sind wohl kaum zu verstehen als Plädoyer für
Lebensweisen, die unseren Vorstellungen von gutem Leben einigermaßen
entgegengesetzt sind; gleichwohl sind Porträts entstanden, die sehr
viel Würde haben;
diese Würde beziehen sie zum einen aus dem außerodentlichen Talent
des Fotografen, einen Dialog zu entwickeln mit den Menschen, die er
abbildet; zum anderen lassen sich die Aufnahmen einreihen in eine
Kunstgeschichte der Fotografie der Armut: August Sander bereits
versammelte in seinem Opus Magnum "Menschen des 20. Jahrhunderts"
unter der Kategorie: Letzte Menschen: die Kriegskrüppel, die
Schwachsinnigen, die Heimkinder, die Andersartigen, die
Straßenbewohner.
In den Vereinigten Staaten weiteten vor allem Weegee und Diane Arbus
den Blick auf die Randständigen und Außenseiter. Margaret Morton
fotografierte in den 1990er Jahren in einem Tunnel, in dem Obdachlose
Unterschlupf gefunden hatten und Anthony Hernandez zeigte verlassene
Schlafplätze unter Brücken, in Hinterhöfen oder zwischen
Hauseingängen.
An dieser Stelle erlaube ich mir ein, wenn es um Fotografie geht,
unvermeidliches Zitat von Walter Benjmanin: "ist nicht jeder Fleck
unserer Städte ein Tatort? Nicht jeder ihrer Passanten ein Täter? Hat
nicht der Photograph (- Nachfahr der Auguren und der Haruspexe - )
die Schuld auf seinen Bildern aufzudecken und den Schuldigen zu
bezeichnen?" (Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Fotografie,
Frankfurt/M. 1966, S. 246)
Andreas Neumann stellt sich in diese Tradition mit einer lakonischen
Bestandsaufnahme ohne Weinerlichkeit und ohne erhobenen Zeigefinger,
ohne Beschönigung und ohne Entrüstung. Seine Bilder präsentieren
Bühnen für Meisterschaften des Durchhaltevermögens, des
Überlebenswillens und der Verweigerung jeglicher Anpassung. Innerhalb
der armseligen Bedingungen wählt jeder seine Rolle selbst, wählt
jeder das Bild, das er von sich abgeben will: sicherlich keine
Heldenfiguren aber auch keine Menschen, die auf Mitleid angewiesen
sind oder Erbarmen provozieren wollen.
Neumann selbst hat seine Arbeiten als Gratwanderung zwischen
verschiedenen gesellschaftlichen Welten bezeichnet. Es ist auch eine
Gratwanderung zwischen Aufklärung und Anklage, zwischen Neugier und
Sozialkritik. Und eine Gratwanderung zwischen Journalismus und
Expressionismus.
Eine Gratwanderung jedenfalls, die gelingt; denn aus jedem
Quadratzentimeter Fotopapier spricht ein besonderes
Einfühlungsvermögen ,das demjenigen etwa von Nan Goldin gleicht; sie
hatte in ganz anderen gesellschaftlichen Kontexten ihre Lebensaufgabe
gefunden: I'll be your mirror - ich werde euer Spiegel sein. Ein
Spiegel, den wir auch an diesen Wänden wieder finden.
Wir sehen hier keine Verbannung in die Erniedrigung; vielmehr mag ja
auch eine - vielleicht zweifelhafte - Freiheit darin bestehen, an
nichts und niemand hängen zu müssen.
Und dazu noch eine kleine Geschichte aus Wuppertal: in der
Bahnhofsunterführung, dem bereits erwähnten Sammelbecken der
Gestrauchelten, sang immer eine junge Frau zur Gitarre fromme Weisen.
Sie wurde - oh Wunder - tatsächlich entdeckt, wurde aber in der Welt
der Musikproduktionen nicht glücklich und kehrte freiwillig auf die
Straße und in die Unterführung zurück. Jeden, der ihr etwas gab,
segnete sie. Damit traf sie mich mitten ins Herz.
Wie diese Bilder.
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