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Tagtraum: Fotografie     Andreas Neumann, Bielefeld           07.07. - 13.08.2005




Siehe unten. Anmerkungen zu Arbeiten von Andreas Neumann
(Prof. Anna Zika, Rede zur Ausstellungseröffnung am 07.07.2005)

Vor einigen Monaten fand ich in einem Satiremagazin ein Foto, auf dem man Angela Merkel sah, wie sie halb hinter einem Busch versteckt ein Handy benutzte. Die Redaktion hatte das Porträt mit einer Sprechblase versehen: "Hallo Herr Hartz, Merkel hier. Ich würde gerne schon mal 5-9 bestellen."

Mir schien diese Montage sehr geeignet, den Zustand der Nation auf den Punkt zu bringen. Damals lebte ich noch in Wuppertal, und zwar im achten Jahr meines Aufenthalts. Innerhalb dieser acht Jahre hatte ich beobachten können, wie eine westdeutsche Stadt mittlerer Größe nicht nur zunehmend an Attraktivität und Lebensqualität einbüßte, sondern regelrecht verkam und - zumindest was die Bahnhofsgegend betrifft - verelendete.

Gestalten, wie wir sie ähnlich auf diesen Fotos hier sehen, waren nun nicht mehr fern und ins melodramatische Nachrichtenbild gebannt, sondern gehörten mit immer größerer Selbstverständlichkeit zum Alltag. Der Trost für Privilegierte und Wohlhabende - arm, das sind immer die anderen - schien nicht mehr zu greifen; das schlechte Gewissen ließ sich auch durch gelegentliche Spenden nicht mehr beruhigen. Ich habe das seinerzeit nicht mehr ausgehalten und die Stadt gewechselt.

Eine naive Flucht; denn Obdachlosigkeit ist ein zeitgenössisches Phänomen der meisten Industriegesellschaften geworden; für die USA beispielsweise werden die Anfänge der Misere auf die 1960er Jahre datiert, als Ronald Reagan, damals Gouverneur in Kalifornien, die staatlichen Psychiatrien schloß, und die Kranken auf der Straße landeten. (ein Zustand übrigens, den der Soziologe und Philosoph Jean Baudrillard mit dem Beginn der Apokalypse verglich).
Zu den Schwachen, Hilflosen und Verwirrten gesellten sich bald diejenigen, die es aus anderen Gründen im gesellschaftlichen Wettbewerb nicht geschafft hatten und durch das soziale Netz gefallen waren.

An ihnen, den Obdachlosen, ist nichts zu haben und nichts zu holen: sie zählen weder als Wähler noch als Konsumenten. Gleichwohl sind sie eine feste und bestimmende Größe in fast allen Städten der westlichen Welt geworden. Gerade ihre alltägliche und selbstverständliche Gegenwart lässt offenbar nicht die Frage aufkommen: wie ist es um ein Land bestellt, in dem Bürger sich in die Lage versetzt sehen, ihren Selbstrespekt völlig preis zu geben.

Ich will hier gar nicht von "tief gesunken" sprechen. Andreas Neumann nennt sie, die auf seinen Bildern zu sehen sind, die "nicht Anerkannten unserer Gesellschaft". In verschiedenen Städten, darunter außer Bielefeld etwa Berlin, Hamburg, Bremen und London, spürte er seine Porträtierten auf, spürte sie auf in ihrem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit.
Jedes dieser Schicksale ist anders und unverwechselbar, vor jedem dieser Bilder gilt es zu ergründen, wie es zu diesem Status gekommen ist. Vor jedem dieser Schicksale gilt es Achtung zu haben; denn diese Bilder erzeugen nicht (bzw. nicht nur) Empathie im Sinne von Mitleid oder Mit-Leiden;
Neumann nimmt nicht nur die bedauernswerten Einzelnen ins Bild, sondern den Widerspruch einer Dritte-Welt-Armut in Ländern der Ersten Welt; so scheint es hierbei um den Preis zu gehen, den eine Gesellschaft zu zahlen hat, ein Ungleichgewicht als Garant für einen akzeptablen Durchschnitt, die Negativbilanz jeden Aufschwungs wie den Anfang vom Untergang.

Andreas Neumanns Bilder sind nicht eigentlich spektakulär und wollen es auch nicht sein. Konzipiert als visuelles Reisetagebuch eröffnen sie ein Panorama der individuellen Möglichkeiten, sehr weit unten zu sein und auch weit unten noch eine Position zu finden. Die Fotografien sind wohl kaum zu verstehen als Plädoyer für Lebensweisen, die unseren Vorstellungen von gutem Leben einigermaßen entgegengesetzt sind; gleichwohl sind Porträts entstanden, die sehr viel Würde haben;
diese Würde beziehen sie zum einen aus dem außerodentlichen Talent des Fotografen, einen Dialog zu entwickeln mit den Menschen, die er abbildet; zum anderen lassen sich die Aufnahmen einreihen in eine Kunstgeschichte der Fotografie der Armut: August Sander bereits versammelte in seinem Opus Magnum "Menschen des 20. Jahrhunderts" unter der Kategorie: Letzte Menschen: die Kriegskrüppel, die Schwachsinnigen, die Heimkinder, die Andersartigen, die Straßenbewohner.
In den Vereinigten Staaten weiteten vor allem Weegee und Diane Arbus den Blick auf die Randständigen und Außenseiter. Margaret Morton fotografierte in den 1990er Jahren in einem Tunnel, in dem Obdachlose Unterschlupf gefunden hatten und Anthony Hernandez zeigte verlassene Schlafplätze unter Brücken, in Hinterhöfen oder zwischen Hauseingängen.

An dieser Stelle erlaube ich mir ein, wenn es um Fotografie geht, unvermeidliches Zitat von Walter Benjmanin: "ist nicht jeder Fleck unserer Städte ein Tatort? Nicht jeder ihrer Passanten ein Täter? Hat nicht der Photograph (- Nachfahr der Auguren und der Haruspexe - ) die Schuld auf seinen Bildern aufzudecken und den Schuldigen zu bezeichnen?" (Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Fotografie, Frankfurt/M. 1966, S. 246)

Andreas Neumann stellt sich in diese Tradition mit einer lakonischen Bestandsaufnahme ohne Weinerlichkeit und ohne erhobenen Zeigefinger, ohne Beschönigung und ohne Entrüstung. Seine Bilder präsentieren Bühnen für Meisterschaften des Durchhaltevermögens, des Überlebenswillens und der Verweigerung jeglicher Anpassung. Innerhalb der armseligen Bedingungen wählt jeder seine Rolle selbst, wählt jeder das Bild, das er von sich abgeben will: sicherlich keine Heldenfiguren aber auch keine Menschen, die auf Mitleid angewiesen sind oder Erbarmen provozieren wollen.

Neumann selbst hat seine Arbeiten als Gratwanderung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Welten bezeichnet. Es ist auch eine Gratwanderung zwischen Aufklärung und Anklage, zwischen Neugier und Sozialkritik. Und eine Gratwanderung zwischen Journalismus und Expressionismus.
Eine Gratwanderung jedenfalls, die gelingt; denn aus jedem Quadratzentimeter Fotopapier spricht ein besonderes Einfühlungsvermögen ,das demjenigen etwa von Nan Goldin gleicht; sie hatte in ganz anderen gesellschaftlichen Kontexten ihre Lebensaufgabe gefunden: I'll be your mirror - ich werde euer Spiegel sein. Ein Spiegel, den wir auch an diesen Wänden wieder finden.

Wir sehen hier keine Verbannung in die Erniedrigung; vielmehr mag ja auch eine - vielleicht zweifelhafte - Freiheit darin bestehen, an nichts und niemand hängen zu müssen.

Und dazu noch eine kleine Geschichte aus Wuppertal: in der Bahnhofsunterführung, dem bereits erwähnten Sammelbecken der Gestrauchelten, sang immer eine junge Frau zur Gitarre fromme Weisen. Sie wurde - oh Wunder - tatsächlich entdeckt, wurde aber in der Welt der Musikproduktionen nicht glücklich und kehrte freiwillig auf die Straße und in die Unterführung zurück. Jeden, der ihr etwas gab, segnete sie. Damit traf sie mich mitten ins Herz.

Wie diese Bilder.